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Das Wartezimmer

“Underneath my outside face There's a face that none can see. A little less smiley, A little less sure, But a whole lot more like me.”

- Shel Silverstein


„Zeit heilt alle Wunden“ – hat jeder schon mal gehört oder schlimmer noch, gesagt. Selbst diejenigen, die ihn sagen, hassen ihn. Wahrscheinlich sogar besonders die, die ihn sagen. Was soll ich damit? „Frau Trautmann, nehmen Sie doch bitte im Wartezimmer Platz, nehmen Sie sich ein Sudoku und warten Sie auf diesen einen magischen Tag, an dem Sie die Augen öffnen und sagen: Ha, geheilt!“

„Zeit heilt alle Wunden“ gehört in die Kategorie: Top 10 Sätze, die man benutzt, wenn man nicht weiß, was man sonst sagen soll, direkt hinter „Das wird schon wieder“ und „Lieber arm dran als Bein ab“.


Manche Wunden bleiben einfach offen. Und anstatt sich jeden Tag aufs Neue emotional vollzubluten, akzeptiert man sie, packt sie sorgfältig in Luftpolsterfolie, legt sie in eine mentale Umzugskiste im Kopf und beschriftet sie mit „Vorsicht, zerbrechlich, bitte nicht öffnen oder Salz reinstreuen“. Und da steht sie dann vielleicht Jahre im limbischen Gehirnskeller, und man stellt Bücherregale davor oder Tinderkontakte oder Weihnachtsdeko. Und man lebt, als wäre gar nichts, blissfully unaware. Bis irgendwann ein Idiot in unserem Leben, aus welchem Grund auch immer, auf die Idee kommt, man könnte ja mal ausmisten. Und er oder sie findet natürlich genau diese Kiste. Und wenn wir dann in Embryohaltung heulend hyperventilieren, sitzt der Idiot neben uns, in der einen Hand die Kiste und mit der anderen Hand uns zärtlich tätschelnd und sagt: Keine Sorge, Zeit heilt alle Wunden.


Und dabei rede ich nur von Wunden, die uns andere zugefügt haben. Die Wunden, die wir selbst zu verursachen haben, die sind ein ganz anderes Kaliber – Schwermetallkisten, hinter Gittern, fette Schlössern dran. Mit Laser Detektoren und komplizierten Exit-Game-Rätseln gesichert, damit da bloß keiner rankommt. Naja, außer wir selbst natürlich. Weil, seien wir ehrlich, unser Gehirn ist manchmal auch einfach ein kleines, sadistisches Stück Scheiße. Wenn wir nämlich am Boden liegen, immer noch am hyperventilieren mit dem Idioten neben uns, da kommt unser Hirn und flüstert: „Du, ähm, ich weiß, dir geht es gerade nicht so gut, aber ähm, ich dachte, jetzt wo wir grade dabei sind mit den ganzen negativen Gedanken und Gefühlen und so, da wollte ich dich nur daran erinnern, ähm, wir hätten da noch ne Kiste mit Selbstverachtung in der Ecke und naja, ich dachte, vielleicht willst du die auch einfach jetzt aufmachen, passt ja irgendwie…


Das Blöde ist, wir können diesem kleinen, sadistisches Stück Scheiße nicht entfliehen. Wir können uns nicht vor ihm unter der Bettdecke verstecken oder eine Beziehungspause einlegen. Es ist immer da, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr und wenn ich mir meine durchschnittliche Lebenserwartung so anschaue, wahrscheinlich noch ca. 52 Jahre. Gut, was macht man also? In Selbstmitleid verfallen, zuhause darauf warten, dass Zeit alle Wunden heilt? Mmh, vielleicht vergleichbar am Hamburger Hafen auf ein knallrotes Gummiboot mit Johnny zu warten – möglich aber höchst unwahrscheinlich.


Gut, andere Idee, wie wäre es mit Verarb…auf gar keinen Fall.

Naja, wenn man sich zwingt, diesen Weg einzuschlagen, dann kann das einen innerlich zerreißen. Mich hat es zerrissen. Weil ich erkennen musste, dass hinter Angwohnheiten, Entschuldigungen, Verdrängungen, Vergleichen, Kindheitstraumata und so weiter und so weiter, ein Fakt unbestreitbar war: Ich bin auch Täter. Ich habe Schmerz zugefügt. Mir selbst und anderen.

Zeit für schlauen Satz Numero 2: „Man muss sich selbst lieben, bevor man andere lieben kann.“ Cool. Bringt mir ungefähr genauso viel wie der Erste. Wie liebe ich mich denn? Wie verzeihe ich mir denn? Kann ich das? Darf ich das? Ich halte mich klammernd an meinen Schwermetallkisten fest und will sie nicht loslassen, aus Angst, nicht zu wissen, wer ich bin ohne sie. Ich kann mir nicht verzeihen. Mich lieben erst recht nicht.



Puh, das wär mal so ein richtig beschissen deprimierendes Ende. Aber was soll man auch sagen, wenn man nicht mehr weiß, was man sonst sagen soll. Don’t say it…don’t say it…„Zeit heilt alle Wunden“? Ich sitze immer noch hier. Im Wartezimmer mit dem Sudoku. Vielleicht irre ich mich ja. Vielleicht muss ich einfach nur irgendwann die Augen öffnen und dann –

„Jamie, die Zeit wäre dann jetzt soweit.“


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